Nun ist sie im Angesicht der europäischen Krise wieder
angebrochen, die Zeit der Solidarität. Es wurden Dummheiten gemacht, die
deren Verursacher nicht ausbaden wollen. Es wurden fahrlässig Risiken
eingegangen, deren Folgen nun keiner akzeptieren will. Da erinnert man
sich flugs des schönen Konzeptes des Abwälzens unangenehmer Folgen des
eigenen Handelns auf Andere, der modernen Solidarität. Selbst ein Helmut
Schmidt mit all seinem wirtschaftlichen Sachverstand kann es nicht
lassen, in seine Analysen solche moralisierenden Appelle einzuflechten.
Aber für wen wird denn da Solidarität eingefordert? Für den griechischen
Rentner, für den italienischen Arbeiter, die portugiesische
alleinerziehende Mutter, die jetzt alle unter den Sparhaushalten leiden?
Sind sie es, die in den letzten Jahren in Ihrer existentiellen Not die
Haushalte ihrer Ländern bis zum Reißen strapaziert haben? Die das
ganze Geld zum Bestreiten ihres bescheidenen Lebens aufgebraucht haben?
Mitnichten! Die Macht- und Wirtschaftseliten der betroffenen Länder sind
es, die den Ruin der Haushalte zu verantworten habe, und ein guter Teil
des jetzt fehlenden Geldes ist von eben jenen Eliten in der Schweiz
oder den Cayman Islands beiseite geschafft worden. Griechische Reeder,
die keine Steuern bezahlen, italienische Politiker, die sich dank
dubioser Verbindungen seit Jahren an staatlichen Fleischtöpfen laben
oder irische Immobilienspekulanten, die ihren Landleuten Milliarden an
Defiziten und ein paar überspannte Villen hinterlassen haben, das sind
die Leute, bei denen das Geld verschwunden ist. Und denen soll die
Solidarität des deutschen, finnischen und holländischen Steuerzahlers
gelten? Solange die nationale Politik der verschuldeten Länder oder die
EU es nicht schaffen, diese Milliarden anzuzapfen, um die von deren
Besitzern geschaffenen oder fahrlässig in Kauf genommenen Defizite
auszugleichen, ist es mehr als dreist, mit moralischer Pose das Geld von
anderen einzufordern. Ach ja, apropos deutsche Machtelite, und wie seht
die SPD übrigens den Fall ihres ex-Finanzministers, der sich einen
Nachschlag auf seine eh schon üppige Rente vor Gericht erstreitet? Es
ist im Vergleich kein großer Betrag, und er mag ein Recht darauf haben,
aber wohlfeiles Geschwätz von der gemeinsamen Verantwortung für das
Gemeinwohl kann man sich dann wohl sparen.
Nun sind die Verhältnisse im zerrütteten Europa so, wie sie sind, und
Politik muß mit ihnen zurechtkommen. Man kann also über unappetitliche
Alternativen sprechen, über notwendige Rettungen, über Einschränkungen
und Kosten, vielleicht auch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit oder
Exporte, aber in dieser Situation von Solidarität zu sprechen, ist von
ihrem korrupten System verhafteten südeuropäischen Politikern eine ans
kriminelle grenzende Frechheit, und von deutschen Altbundeskanzlern
immer noch schwer erträglich.
Bezieht sich auf: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-12/spd-parteitag-helmut-schmidt-europa